Review: 71 FRAGMENTE EINER CHRONOLOGIE DES ZUFALLS - Die tickende Zeitbombe Alltag


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Fakten:
71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls
AT, BRD, 1994. Regie & Buch: Michael Haneke. Mit: Gabriel Cosmin Urdes, Lukas Miko, Otto Grünmandl, Anne Bennent, Udo Samel, Branko Samarovski, Claudia Martini, Georg Friedrich, Alexander Pschill, Klaus Händl, Corina Eder, Dorothee Hartinger u.a. Länge: 95 Minuten. FSK: Freigegeben ab 12 Jahren. Auf DVD erhältlich.


Story:
Ein obdachloser Junge auf den Straßen Wiens, ein Ehepaar bangt um das Überleben seines kranken Babys, ein anderes adoptiert ein Mädchen und gewinnt langsam dessen Zuneigung, ein alter Mann vereinsamt, überall auf der Welt herrscht Gewalt durch Krieg und Terrorismus, Michael Jackson wird der Unzucht mit einem Kind angeklagt und ein Student richtet am Ende ein Blutbad in einer Bank an. Das hat nichts und dabei alles miteinander zu tun.



                                                                               



Meinung:
Wer mal einen richtig sperrigen und dabei eigentlich total exakten, die Handlung direkt erklärenden Filmtitel sucht, Michael Haneke hat ihn bereits gefunden. Dürfte auf ewig mindestens in den Top-5 dieser Kategorie liegen, was soll da noch kommen? Sperrig wie sein Titel ist auch der Film, lässt sich kaum beschönigen. Sein Butterfly Effect (die Theorie, nicht der Film), nur am Rande global, doch irgendwie ist es das doch immer, oder? Michael Haneke ist und war ja nie gerade dafür bekannt, die breite Masse anlocken zu wollen. Manchmal, speziell bei seinen weniger populären Arbeiten (was wohl auch der Grund für diese Bezeichnung sein dürfte) stellt sich bald das Gefühl ein, er will sie bewusst ausschließen. So extrem wie hier wohl noch nie. Das ist schwierig, keine Frage. Das ist fordernd, das ist mehr als nur polarisierend, das ist die Anforderung an den Zuschauer, sich nicht einfach nur berieseln zu lassen. Mehr denn je.


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Kleine Schicksale im großen Ganzen.
Bemerkenswert ist dabei nicht nur die sehr spezielle, bald schon experimentelle Art dieses Werks – an der sich die meisten Filmemacher gnadenlos das Genick brechen würden – sondern auch die Tatsache, dass Haneke sich aus seinem Lieblings-Mikrokosmos entfernt. Statt sich auf den Konflikt und die Dramaturgie innerhalb einer Familie oder eines sonst miteinander in direkten Beziehung stehenden, menschlichen Verbunds zu konzentrieren, gibt es das hier nur – Überraschung –in Fragmenten. Der Fokus liegt auf dem großen Ganzen, das wir jeden Tag erleben, mehr unbewusst als bewusst, dessen großen Zusammenhang wir gar nicht erfassen können, selbst wenn wir es wollten. Das geht auch hier nicht. Nicht im Detail, nicht als allgemein verständlicher und jedem zugänglicher Schalter, der schlagartig Licht ins Dunkel bringt. Das wäre auch zu einfach. Einfach ist diese Welt nicht, nicht planbar und erst recht nicht ist und kann jedem bewusst sein, was das alltägliche Handeln und die kleinen Abzweigungen im Leben, die wir natürlich selbstverständlich nehmen, an anderen Stellen in eine Sackgasse führen. Eventuell sogar gegen eine Mauer. Da hat niemand Schuld dran, man dürfte niemals wieder vor die Tür gehen. Wahrscheinlich wäre selbst das Ursache einer persönliche Katastrophe für jemanden, den wir nicht mal kennen. Oder auch nicht...


Am Rande des Abgrunds, jeden Tag, jeder von uns.
Wer der vielen Menschen, in deren Leben wir im Verlauf der Handlung einen kurzen Einblick erhaschen, hat direkt oder indirekt Schuld daran, dass am Ende des Tages vier Leben ausgelöscht wurden? Alle...keiner...einige...und warum genau? Who knows. Die Möglichkeit besteht, Interpretationen wird freiem Lauf gelassen. Eingefangen in Hanekes typisch ruhigen, beobachtenden, auf den ersten Blick knochentrockenen und oftmals als emotionslos abgehakten Stil. Ruhig und beobachtend ist das zweifellos, im allgemeinen Sinn auch trocken, doch eins bestimmt nicht, emotionslos. Daher kann es eigentlich auch nicht trocken sein... Nüchtern, das trifft es. Nüchtern, niemals erheiternd, auf direkte Wahrnehmung kalkulierend, niemals mit gängigen Mitteln manipulierend, was nicht grundsätzlich eine schlechte Sache sein muss. Klar wollen wir – gerade bei Filmen – gerne auch manipuliert werden. Wir wollen zum Lachen, Fürchten, Mitfiebern und auch Weinen und Leiden eingeladen werden, nur Haneke lädt nicht ein und bittet um die Teilhabe. Er verlässt sich darauf, dass jeder selbst erkennt, was er aus seiner Vorlage erfasst. Hier werden wahre, ungefilterte Emotionen gezeigt, nichts dem Zufall überlassen, ganz im Gegensatz zu dem Thema des Films. Die Plansequenzen sind bis ins Letzte durchdacht, Haneke ist ein Perfektionist durch und durch. Er zeigt Leben, halt nur selten die erheiternden Momente. Er lässt einem die Wahl, was er daraus zieht und mitnimmt, wie fern einen gewisse Szenen fesseln, berühren oder total kalt lassen. Planlos ist das dabei niemals, im Gegenteil. Selbst die oftmals nicht zusammenhängenden Geschehnisse in diesem Film verfolgen unverkennbar ein Ziel. Und wenn es nur der Weg dorthin ist.


Vielleicht tatsächlich der komplizierteste Film von Haneke. Er serviert dir rein gar keine klaren Antworten, wirft nur Brocken hin, die in jede Richtung Spielraum lassen oder in die schon erwähnten Sackgassen bzw. gegen Mauern führen. Doch selbst dann ist alles ein Baustein. Ein Fragment. Des Zufalls? Dieser Film will gar nicht durchgehend anrichten, er will anregen. Über Dinge, Vorgänge, Zusammenhänge, ihre Wichtigkeit und Nichtigkeit nachzudenken, sie zu reflektieren und daraus eventuell Schlüsse zu ziehen. Oder eben nicht...Stark, auf seine eigene Weise.

7 von 10 Fragmenten einer Chronologie der Bewertung

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