Review: EIN KIND ZU TÖTEN – Wenn das Paradies zum Grauen wird



Fakten:
Ein Kind zu töten (OT: ¿Quién puede matar a un niño?)
ES. 1976. Regie: Narciso Ibáñez Serrador. Buch: Narciso Ibáñez Serrador. Mit: Lewis Fiander, Prunella Ransome, Miguel Narros, María Luisa Arias, Juan Cazalilla, Luis Ciges, Antonio Iranzo u.a. Länge: 106 Minuten. FSK: Freigegeben ab 16 Jahren. Auf DVD erhältlich.


Story:
Tom und Evelyn wollen ihren Urlaub auf einer kleinen spanischen Insel im Mittelmeer genießen und das malerische Küstendörfchen Almanzora ist als Ort der Entspannung wie geschaffen. Als die beiden am kleinen Hafen anlegen und nun 4 Stunden vom Festland entfernt sind, warten bereits einige Kinder und empfanden die beiden Engländer. Alles scheint normal, friedlich, ausgelassen, doch der Schein trügt. Je länger Tom und Evelyn auf der Insel sind, desto merkwürdiger erscheint ihnen das Verhalten der Kinder, bis die Lage eskaliert…




Meinung:

Flüchten ist zwecklos…
Eigentlich lässt der unbeeinflusste Anblick der idyllischen Mittelmeerinsel Almanzora ein echtes Urlaubsparadies vermuten, in dem man mit seiner/m Herzallerliebsten mal endlich wieder entspannt die Seele baumeln lassen kann und den Alltagsstress in der Heimat sorglos hinter sich lässt. In Narciso Ibáñez Serrador „Ein Kind zu töten…“ wird dieses evidente Paradies Spaniens jedoch Schritt für Schritt zum ausweglosen Ort des Schreckens konvertiert, in dem es ein englisches Ehepaar mit einer Horde Kinder zu tun bekommt und schnell an die Grenzen der physischen wie emotionalen Belastbarkeit geführt wird. Das klingt nun äußerst reißerisch und obsolet, selbst für die Standards des 70er Jahre Kinos, denn die kindliche Unschuld als Symbol der sublimen Bedrohung zählt in den Genrezirkeln zu den reichlich abgewetzten Intentionen. Doch „Ein Kind zu töten…“ ist anders; anders als die stereotypischen Sachverhalte innerhalb des Sujets; anders, weil er den Zuschauer in die zunehmend resignierte Rolle seiner Protagonisten drängt und ihn ebenso fordert, wie er ihn auch im Laufe des Filmes immer weiter – und auch noch lange Zeit nach dem Abspann – zermürbt.


Diese unablässige Nachwirkung bezieht „Ein Kind zu töten…“ genau aus dem wirkungsvollen Aspekt, der einen echter Schocker eben ausmacht: Keine Informationen für die Motivationen seiner Antagonisten zu verteilen und sich einer klaren Auslösung auch stur zu entziehen, einfach weil sie den Reiz des Ungewissen durch ihren unnötigen Drang nach Rationalität zerstören würde. Narciso Ibáñez Serrador beschreitet einen anderen, besseren Pfad und zeigt bereits zu Anfang eine kontroverse Aggressivität, die im weiteren Verlauf immer weiter an die Oberfläche getragen wird. Im Prolog werden Archivaufnahmen des Konzentrationslagers, verschiedener Bürgerkriege und Vietnam gezeigt; mittendrin immer wieder entstellte, vollkommen ausgezehrte, leidende Kinder, während im Hintergrund ein leise Stimme, ebenfalls ein Kind, eine gar harmonische Melodie verfolgt. Nun stellt sich ohne Ausnahme die folgenschwere Frage, wie man diesen Auftakt kategorisieren möchte: Ist es Exploitation in Reinform, eine zynische Anklage oder vielmehr ein politisches Statement, dass sich auch latent durch den gesamten Film schlängelt?



…denn sie sind überall
Entscheidet man sich für die dritte Möglichkeit, findet man im weiteren Verlauf immer wieder bedeutsame Bezugspunkte einer politkritischen Stütze, die auch die Kinder zu einer Art Sinnbild des Zorns umfunktionieren: Der Aufstand der Unterdrückten, der wutentbrannte Tumult, der sich gegenüber den gescheiterten Generationszielen aufbäumt und nur noch die allesverzehrende Gewalt als zweckdienlichen Ausweg empfindet. Eine mehr als signifikante Szene ist dabei auch die, in der das englische Paar im Fernsehprogramm die Bilder eines Militärputsches in Thailand zu sehen bekommt. Ihre Reaktion darauf ist universell und in fast jedem Wohnzimmer so vorzufinden: Ein kurzer Seufzer, und weiter geht der Urlaub. „Ein Kind zu töten...“ wird dadurch eine äußerst interessante Note beigefügt, die sich als Projektion vom Zerschellen sämtlicher Ideale aufzeigt. Wenn sich dann noch der hallende Herzschlag repetitiv auf die Tonspur legt, dann sind die vieldeutigen Interpretationsmöglichkeiten des Geschehens auf dem Gipfel angelangt.


Ob „Ein Kind zu töten…“ noch ein Horrorfilm ist oder der alleinigen Gattung Terror angehört, lässt sich nicht vollends differenzieren, tut aber letzten Endes rein gar nichts zur Sache, bedient er doch beide Komponenten in einem so hervorragenden Umfang, dass am Ende nur die Wirkung, der Einfluss auf den Zuschauer zählt. Und wenn es um Anspannung geht, weiß Narciso Ibáñez Serrador genau welche Knöpfe er bedienen muss, „Ein Kind zu töten…“ ist auch kein Film der nur durch seine Handlung entfalten werden kann, „Ein Kind zu töten…“ ist ein Film, den man erfahren muss, den man in seiner atmosphärischen Bedrängung erlebt haben muss. So bitterböse wie das ausweglose Netz hier gespannt wurde, so schockierend zeigt sich auch die Zeichnung der Kinder, dem Ursprung allen Übels. Serrador ist nicht daran interessiert sie als übersinnliche Wesen in menschlicher Hülle darzustellen, sondern lässt ihnen über die gesamte Laufzeit das Kindliche, das Naive, nur ist die angedichtete Harmlosigkeit ein Trugschluss. Selten war ein Kinderlachen bedrängender und die moralische Zwickmühle bitterer.


8,5 von 10 durchgeladenen Gewehren


Von Souli

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